Erziehung oder Missbrauch? Vater schlägt aggressiven Stiefsohn – Bewährungsstrafe wegen gefährlicher Körperverletzung
Es gibt Gerichtsverfahren, in denen sich im Laufe der Verhandlung herausstellt, dass die Realität so ganz und gar nicht dem allgemeinen Klischee entspricht. Ein solches Verfahren, eine Jugendschöffensache, fand in dieser Woche vor dem Amtsgericht Unna statt.
Angeklagt war der 46 Jahre alte V., Migrationshintergrund, der deutschen Sprache mächtig, wenn auch nicht perfekt. Zur Tatzeit wohnt der Angeklagte mit seiner deutschen Frau und ihrem zehnjährigen Sohn sowie vier weiteren gemeinsamen, jüngeren Kindern in einer winzigen Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Holzwickede. Im Tatzeitraum vom 1.8.2018 bis 11.5.2020 soll der Angeklagte seinen Stiefsohn gequält und sich der Freiheitsberaubung schuldig gemacht haben.
Konkret warf die Anklage dem 46-Jährigen vor, dass er seinen Stiefsohn im Februar 2020 mit der Holzschiene einer Spielzeugbahn auf den Kopf schlug, so dass dieser eine blutende Kopfwunde davon trug. Zudem soll er ihn bei anderer Gelegenheit mit einem Pantoffel geschlagen haben. Weil der Junge gegen ein Verbot verstieß, soll er ihn bei anderer Gelegenheit zur Strafe tagelang in einem dunklen Badezimmer eingesperrt haben.
Außergewöhnlich war dieses Verfahren schon deshalb, weil die Verteidigerin gleich nach Verlesen der Anklage um ein Rechtsgespräch bat, das sich dann auch fast eine Stunde unter Ausschluss der Öffentlichkeit hinzog.
Schwierige Familienverhältnisse, beengte Wohnsituation
Wie Richter Christian Johann anschließend erläuterte, sei es in dem Rechtsgespräch darum gegangen, inwieweit die doch recht schwerwiegenden Straftatbestände Freiheitsberaubung und Missbrauch eines Schutzbefohlenen in Frage kämen. Ist ein durch den Vater verhängter Stubenarrest noch eine erzieherische Maßnahme oder schon eine Freiheitsberaubung? Nach Ansicht des Richters gebe es im vorliegenden Fall darum „nur eine sehr geringe Chance, eine Freiheitsberaubung nachzuweisen“.
Als wesentliches Merkmal für einen Missbrauchs von Schutzbefohlenen müsste dem Vater „eine besondere Rohheit“ nachgewiesen werden. Auch das lasse sich nicht feststellen, weshalb letztlich nur eine gefährliche Körperverletzung wegen des Schlages mit der Holzschiene einer Spielzeugbahn auf den Kopf des Jungen als Anklage in Frage komme.
Diese Entscheidung dürfte auch deshalb so ausgefallen sein, weil das Verfahren vor dem Amtsgericht vor dem Intergrund einer familienrechtlichen Auseinandersetzung zu sehen ist, deren hässliche Einzelheiten nicht in die Öffentlichkeit gehören. In diesem Kontext wurde auch ein umfangreiches Gutachten erstellt, das dem Amtsgericht vorlag und dessen Ergebnisse für die strafrechtlichen Beurteilung des Sachverhaltes eine erhebliche Rolle gespielt haben dürften.
Danach ist die Mutter des Jungen, mit der der Angeklagte in einer langjährigen Beziehung lebte, psychisch krank. Überhaupt war die ganze Situation in der Familie sehr schwierig. Unterstützung oder Hilfe von seiner Frau konnte V. nicht erwarten. Er musste ganz allein mit den Kindern klar kommen. Was insbesondere bei seinem Stiefsohn so gut wie unmöglich war, denn der Junge hat ebenfalls eine Vorgeschichte aus der Zeit, als seine Mutter den Angeklagten noch gar nicht kannte. Aufgrund dieser Vorgeschichte ist der Junge verhaltensauffällig und zeigt ein aggressives Verhalten, insbesondere gegen seine jüngeren Geschwister und den Stiefvater.
Verzweifelter Vater verlor die Nerven
Der Angeklagte, ein grundsätzlich gebildeter Mann, der nach Deutschland kam, um hier Medizin zu studieren, nun aber als Altenpfleger arbeitet, um seine Familie ernähren zu können. Er räumt den Schlag mit der Holzschiene auch ein. V. zeigte durchaus Empathie für seinen Stiefsohn, der offenbar sehr unter den beengten Wohnverhältnissen und finanziellen Verhältnissen litt und deshalb ständig mit seinen jüngeren Geschwistern in Konflikt geriet. Auch in der Schule hatte sein Stiefsohn Probleme. Doch weder dort und erst recht nicht von seiner Frau erhielt V. Unterstützung bei der Erziehung. Die Mutter fälschte sogar eigenhändig ein Zeugnis des Jungen, um den Angeklagten über dessen Schulsituation zu täuschen.
Zu dem Zwischenfall mit der Holzschiene sei es gekommen, als sein Stiefsohn wieder einmal auf seine kleine Schwester losgegangen sei und ihr fast die Hand in einer Tür eingeklemmt hätte. „Ich bereue das und es tut mir wirklich sehr leid. Ich habe mich auch bei meinem Sohn sofort dafür entschuldigt“, bedauert der Angeklagte seinen Ausraster. Dass er seinen Stiefsohn tagelang ins Badezimmer eingesperrt oder bei weiteren Gelegenheiten geschlagen habe, bestritt V. vehement. Laut Strafregister ist er ein völlig unbescholtener Mann. In seinem Beruf als Altenpfleger gilt er als jemand, der sehr liebevollen mit den Patienten umgeht.
Die Staatsanwältin attestierte dem Angeklagten denn auch, dass er als Vater grundsätzlich sehr um die Entwicklung seiner Kinder einschließlich des Stiefsohnes bemüht war. „Es ging ihm um gute Erziehung. Die ganze Situation in der Familie war jedoch ausgesprochen schwierig und er hat keinerlei Unterstützung dabei von der Mutter erhalten. Dass er verzweifelt war und die Nerven verloren hat, als er zuschlug, kann man ihm durchaus ,abkaufen‘.“
„Wie dünnhäutig und verzweifelt jemand mit der Zeit wird, kann nur ermessen, wer einmal selbst in einer solchen Situation war.“
– die Verteidigerin
„Eltern müssen ihre Kinder auch zu bestimmten Dingen anhalten können, etwa zu gesunder Ernährung oder Hausaufgaben“, so die Staatsanwältin. „Da lässt sich nur schwer feststellen, ob es sich um eine Strafmaßnahme oder schon um eine Freiheitsberaubung handelt.“ Zumal die Tat auch schon zwei Jahre zurück liegt. Letztlich blieb aber eine gefährliche Körperverletzung in einem minderschweren Fall für den Schlag mit der Holzschiene. Dafür forderte die Anklagevertreterin eine Freiheitsstrafe von sieben Monaten, ausgesetzt zur Bewährung.
Mutter lehnte alle Hilfsangebote ab
Die Verteidigerin von V. verwies auf das familienrechtliche Gutachten und die sehr schwierigen Familienverhältnisse. Die Mutter sei psychisch krank und zeige keinerlei Einsicht. Aufgrund der Erlebnisse in der Zeit bevor er seinen späteren Stiefvater kennenlernte, sei auch ihr Sohn verhaltensauffällig. Auf alle Hilfsangebote durch den Angeklagten, das Jugendamt, Therapeuten usw. habe die Mutter ablehnend reagiert. „Wie dünnhäutig und verzweifelt jemand mit der Zeit in einer solchen Situation wird, kann nur ermessen, wer einmal selbst in einer solchen Situation war“, so die Verteidigerin mit Blick auf ihren Mandanten, der „auf keinen Fall ein Straftäter“ sei. Ein explizites Strafmaß forderte die Verteidigerin nicht für die „minderschwere Tat“ und stellte dies ins Ermessen des Gerichts.
Richter Christian Johann verurteilte den Angeklagten schließlich zu einer Freiheitsstrafe von fünf Monaten und setzte diese Strafe zur Bewährung auf zwei Jahre aus. „Keinen Zweifel“ ließ der Richter in seiner Urteilsbegründung daran, dass es sich um einen „minderschweren Fall“ von gefährlicher Körperverletzung „in einer Ausnahmesituation“ handele. Die Wohnsituation sei sehr beengt gewesen, es lebten zwei Erwachsene und fünf Kinder auf engstem Raum zusammen.