Steile Diskussionsvorlagen, humorvolle Dribblings: Trainer-Legende Hermann Gerland in bester Torlaune
Selbst der Zeitrahmen war einem Fußballspiel angepasst: Zweimal 45 Minuten, dazwischen eine 15-minütige Halbzeitpause und zu guter Schluss noch eine Verlängerung von 30 Minuten: Beim Auftritt von Hermann Gerland, Co-Trainer der Fußball-Nationalmannschaft und langjähriger Co-Trainer von Luis van Gaal, Pep Guardiola, Jupp Heynckes, Carlo Ancelotti und zuletzt Hansi Flick beim FC Bayern München sowie gestählt durch über 200 Bundesligaspiele für den VfL Bochum, war sprichwörtlich jede Minute in der Holzwickeder Kinderglück-Halle aktionsgeladen.
Die Unnaer Unternehmer Professor Dr. Michael Tracz und sein Bruder Andreas spielten Gerland geschickt die (Frage-)Pässe zu. Der verwertete die Vorlagen mit viel fußballerischem Wissen und Humor. Das rund 140-köpfige Publikum feierte das sich prima ergänzende Trio auf der Bühne mit viel Beifall. Tolle Idee, die Professor Dr. Michael Tracz, selber mit VfL Bochum-Vergangenheit, übrigens erst neun Tage vor dem Termin eingestielt und damit ins Schwarze getroffen hatte. Unter den Besuchern waren zahlreiche aktive und Ex-Kicker wie unter anderem Harry Elbracht, Leon Gensicke, Marc Woller oder auch der lokale Fanclub des FC Bayern München, die Hellweg Bazis Unna.
Gebrüder Tracz im Doppelpass mit dem „Tiger“
Geradezu studiert hatte Andreas Tracz die vor kurzem veröffentlichte Biografie von Hermann Gerland „Immer auf’m Platz“. 1954 in Bochum geboren, aufgewachsen in Bochum-Weitmar, gelernter Bankkaufmann bei der Deutschen Bank in Bochum, gewann mit den Bayern insgesamt neun Deutsche Meisterschaften, zweimal die Champions-League und hielt fünfmal den DFB-Pokal triumphierend in den Händen. Als Spieler war er von 1972 bis 1975 übrigens im Sturm aktiv – ab 1975 in der Abwehr. Als knallharter Defensiver erhielt er, übrigens von einem Bochumer Journalisten, der es Ende der 70er großartig fand, alle Spieler „umzutaufen“, den Namenszusatz „Tiger“.
Ein feines Näschen hat der 68-jährige für Talente. Er entdeckte und förderte Top-Spieler wie Philipp Lahm, Bastian Schweinsteiger, Thomas Müller, Mats Hummels oder zuletzt den 19-jährigen Jamal Musiala. Auch als Trainer der Amateurmannschaft des FC Bayern München führte er so manchen Aktiven in den Profifußball.
Angefangen von Anekdoten aus dem Leben des „jungen Hermann“ bis zu vielen Erlebnissen und Erkenntnissen eines erfüllten Fußballlebens war gestern (20.12.) alles beim Abend in Holzwickede dabei.
„Wer 30 Chancen bei einer WM nicht macht…“
Nicht fehlen durfte ein kurzer WM-Rückblick, wie von Hermann Gerland gewohnt, kurz und knapp: „Wir waren in den Spielen gegen Japan und Costa Rica die klar bessere Mannschaft. Aber wenn man die 30 Großchancen nicht macht… Aber das alles war gestern, jetzt blicken wir nach vorne.“ Und doch arbeitete es im Erfolgstrainer, denn nur wenig später meinte er beim Thema der Jugendförderung: „Es nützt nichts, wenn wir in der Nationalmannschaft und ehrlicherweise auch in vielen Vereinen einschließlich der Jugend feststellen, dass wir außer Füllkrug, der einen guten Job in Katar gemacht hat, eigentlich keinen richtigen, klassischen Mittelstürmer haben. Und da können wir auch niemanden in zwei, drei Monaten hintrainieren. Das dauert Jahre, vielleicht sogar zehn und beginnt damit in der Jugend. Und auch Verteidiger, die mal nach vorne gehen oder Spieler, die offensive Dribblings machen, sind leider oft rar gesät.“
Apropos Jugend. Auch hier konnten sich die vielen anwesenden Jugend- und Juniorentrainer, die aus dem ganzen Ruhrgebiet gekommen waren, so einiges mitnehmen. Lob für das zumeist ehrenamtliche Engagement – aber leise Kritik. Beispiel? „Die Schulung beginnt im frühen Kindesalter. Ich kann nicht verstehen, dass man junge Spieler in ältere Jahrgänge hochzieht und dann nicht spielen lässt. Oder auch in großen Kadern – da kann es nicht sein, dass Kinder am Wochenende nicht spielen. Sie müssen spielen, sie müssen eingesetzt werden.“ Oder auch zur Infrastruktur: „In Bochum werden die Sportanlagen abgeschlossen. Da kommt niemand außerhalb der Trainingszeiten herein und herauf. Das ist doch ein Witz. Kinder müssen sich bewegen, müssen sich körperlich betätigen“, beklagte Gerland. Zum Nachwuchs meinte er: „Die jungen Fußballer müssen vom Sport besessen sein, viel Spaß haben. Frische Luft ist so wichtig.“ Und auch Gejammere kommt bei ihm gar nicht gut an. „Es müssen auch mal Zweikämpfe geführt und der Schlappen draufgehalten werden. Dazu muss die Spielfreude kommen – und jeder Einzelne muss viel investieren. Das ist ja im Leben nicht anders.“
Was haben wir sonst noch gelernt von einem Coach, der zum Frühstück ganz bescheiden „Brote mit Leberwurst oder Gouda – und keine Brötchen“ speist, sich zu besonderen Anlässen mal eine Cola light Whiskey gönnt, der liebend gerne mit dem Radel zum Training düst (das fand sein alter Cheftrainer beim FCB, Hansi Flick, aufgrund der Unfallgefahr nicht so prickelnd) und der im Training immer einer der Ersten ist und mit „Hütchen“ Spielfläche und Übungsformen vorbereitet?
Zitate von Hermann Gerland beim Auftritt in Holzwickede
„Berater, Pädagogen, Mental-Coaches, Fitnesstrainer, Mama und Papa und tausend andere Menschen: Alle wollen bei allem mitreden. Der Spieler sucht sich dann immer denjenigen aus, der ihn am meisten lobt. Kritik will er gar nicht hören.“
„Dass zum Beispiel in Bochum Sportanlagen abgeschlossen werden, ist schlimm. Wir sind damals über die Zäune gegangen. Bei leider viel zu vielen Kindern heute muss man befürchten, dass sie auf den Zäunen sitzend mit dem Handy um Hilfe rufen, da sie nicht weiterkommen und sich festgeklemmt haben.“
„Ich habe mir nie etwas gefallen lassen und habe meine Meinung gesagt. Wenn in einem Verein jemand mit meiner Trainerarbeit nicht zufrieden war oder ist, soll er mich halt rausschmeißen. Ich bin nicht als Diplomat tätig.“
„Erfolgreich ist nur derjenige, der vom Fußball besessen ist. Die Schulung muss bereits im frühestens Kindesalter beginnen. Und spielen müssen die Kinder am Wochenende. Es kann nicht sein, dass nach einer Trainingswoche ein ganz junger Spieler draußen sitzen oder stehen muss oder nur einen halbherzigen Kurzeinsatz hat.“
„Wenn jemand kein Talent hat, und ich gebe manchmal bis zu vier Jahren die Zeit das zu beweisen, dann trennen sich unsere Wege. Dann sage ich ihm, dass ich nicht der richtige Trainer für ihn bin, weil ich ihn nicht weiterentwickeln kann.“
Detlef Drossel
Was ein schöner Abend. Ok, manchmal war es weniger professionell. Ich meine die Vorbereitung der Moderatoren. Aber das ist doch vollkommen egal. Die Beiden Brüder haben mir auf jeden Fall einen unvergessen Abend beschert. Mir tat am Abend noch das Zwergfell weh, so musste ich bei manchen Ausführungen von Hermann Gerland lachen. Das Abwehrspieler früher eigene Friedhöfe hatten, nur eine von unzähligen Geschichten aus dem Pott. Liebe Brüder Tracz, besten Dank und ein gutes neues Jahr.