Sechs weitere Stolpersteine zum Gedenken an Opfer der Nazis in Holzwickede verlegt
Seit 2018 wurden in Holzwickede 20 Stolpersteine für Menschen verlegt, die von den Nazis als „lebensunwert“ ermordet oder aus politischen und rassistischen Gründen verfolgt, gedemütigt und misshandelt wurden. Heute wurden sechs weitere Stolpersteine in der Gemeinde verlegt.
Der erste von ihnen wurde gegen 14 Uhr an der Chaussee 124 durch den Künstler Gunter Demnig verlegt und soll an Friedrich Gehrmann erinnern. An der Verlegung nahmen einige seiner Angehörigen und Mitglieder der VHS-Gruppe „Spurensuche – NS Opfer Holzwickede“ sowie Bürgermeisterin Ulrike Drossel und Beigeordneter Bernd Kasischke und weitere Gäste teil. Musikalisch begleitet wurde die Verlegung auf Wunsch durch Kim Friehs.
Die weiteren Verlegungen erfolgen anschließend an der Wilhelmstraße 37 zum Gedenken an Friedrich Rump , an der Nordstraße 21 zum Gedenken an Hermann Franke, an der Rausinger Straße 26 zum Gedenken an Gustav Gottlieb Schmidt sowie an der Rausinger Straße 111 zum Gedenken an Wilhelm Allerdissen und schließlich an der Natorper Straße 1 zum Gedenken an Ernst Wiedemann.
Im Anschluss an die Stolpersteinverlegungen fand ab 15.30 Uhr ein Kaffeetrinken in der Seniorenbegegnungsstätte statt (nach Anmeldung).
Die Biografien der sechs NS-Opfer
Die Biografien der sechs Opfer haben die Mitglieder der VHS-Gruppe recherchiert. Die nachfolgenden Texte stammen von Ulriche Reitinger:
Friedrich Gehrmann, Chaussee 124, wurde am 26. April 1909 in Holzwickede geboren. Der Bergmann war aktives Mitglied des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold, eine der SPD nahestehenden republikanischen Selbstschutzorganisation. Am Tag der Scheinwahl zum Reichstag am 29. März 1936 wurde er von Nazischlägern mit Gewalt aus seinem Elternhaus in ein Auto gezerrt und mit dem Vorwurf konfrontiert, er habe „falsch gewählt“. Unter Schlägen wurde im angedroht, erschossen zu werden, wenn er nicht zugebe, nicht Hitler gewählt zu haben. Auf der Fahrt Richtung Ruhr wurde er zweimal aus dem Auto gezerrt. An einem Schießstand wurde er verprügelt und an der Wellenbadbrücke in die Ruhrwiesen gestoßen. Gehrmann blieb standhaft. Die Peiniger fuhren mit ihm weiter und hielten schließlich an der Ruhr. Als er schließlich unter der Einwirkung weiterer Schläge bekannte, „ungültig“ gewählt zu haben, wurde er noch heftiger geschlagen. Dann ließ man ihn völlig erschöpft und bewusstlos in einer Böschung liegen. Er versteckte sich im Dunkeln im Ufergestrüpp, sodass ihn SA-Hauptsturmführer R. vergeblich suchte. Die Täter fuhren nach Holzwickede zurück. Gehrmann brauchte in der nasskalten Nacht vier Stunden für seinen Nachhauseweg und traf in den Morgenstunden, vollkommen erschöpft und am ganzen Körper entstellt und gerötet, in der Wohnung seiner Eltern ein.
Friedrich Rump, Wilhelmstr. 37, wurde am 21. Mai 1875 in Hengsen geboren und von denselben Tätern ebenfalls am 29. März 1936 beschuldigt, zu den „Nein-Sagern“ zu gehören. Dem Invaliden wurde seine frühere Tätigkeit als Gewerkschaftssekretär und Kassierer des Christlichen Bergarbeiterverbandes zum Verhängnis. Nachdem auch er in das Auto gezerrt wurde, schlugen die Täter sofort auf ihn ein und drohten ihm an, er werde gleich erschossen. In Opherdicke stoppte man an einem Zechenschacht, schlug den Wehrlosen zusammen und ließ ihn liegen. Friedrich Rump raffte sich mühsam auf und machte sich auf den Weg nach Hause, wo er gegen sechs Uhr morgens, am ganzen Körper bis zur Unkenntlichkeit entstellt und voll blutunterlaufener Stellen, in seiner Wohnung eintraf. Aus lauter Angst holte er keinen Arzt, sondern ließ sich von einem Sanitäter notdürftig behandeln.
Hermann Franke, Nordstr. 21, am 22. Dezember 1909 in Holzwickede geboren, erkrankte bereits als Kleinkind an Kinderlähmung und litt an schlimmen Anfällen. Die Eltern verließen Holzwickede noch vor seiner Einschulung Richtung Rheinprovinz. Sie dürften mit der Pflege und Betreuung des Kindes überfordert gewesen sein, und so kam der Junge mit zehn Jahren nach Süchteln (Stadtteil vom Viersen) in die Provinzialheilanstalt Johannistal. Nach weiteren Anstaltsaufenthalten in Essen und Waldbreitbach kam er 1936 zurück nach Süchteln. Dort wurde er im Rahmen des „Euthanasie-Programms“ der Nazis als „lebensunwert“ gebrandmarkt. Im Mai 1941 kam der inzwischen 31-Jährige in die Zwischenanstalt Andernach, von wo aus er am 18. Juni 1941 in die Vernichtungsanstalt Hadamar verschleppt wurde. Dort wurde er am selben Tag in der Gaskammer ermordet. Laut Beerdigungsbuch der Stadt Herdecke wurde seine Asche im Juli 1941 nach Herdecke überführt und beigesetzt.
Gustav Gottlieb Schmidt, Rausinger Str. Höhe 26, wurde am 9. Oktober 1908 in Holzwickede geboren und entstammte einem Lehrerhaushalt. Sein Vater unterrichtete in der Präparandenanstalt. Die Familie verließ Holzwickede bereits vor seiner Einschulung. Gustav Gottlieb Schmidt studierte später Erziehungswissenschaften. An der Hochschule in Braunschweig schloss er sich bereits vor Hitlers Machtantritt der „Sozialistischen Studentenschaft“ an, die den Kommunisten nahestand. Nach dem Tod eines SS-Mannes wurden als Vergeltungsmaßnahme in Braunschweig 400 „Marxisten“ verhaftet. Nach tagelanger Folterung wurden am 4. Juli 1933 zehn Häftlinge ausgesucht, an denen ein Exempel statuiert werden sollte, zu ihnen zählte auch Schmidt. In dem Dorf Rieseberg, wohin die Männer in einen Hof verschleppt wurden, soll sich Schmidt selbst erhängt haben. Es gilt allerdings als wahrscheinlicher, dass er mit einem Strick um den Hals gefoltert wurde und daran gestorben ist. Alle anderen Gefangenen wurden erschossen.
Wilhelm Allerdissen, Rausinger Str. 111, geboren am 20. August 1904 in Holzwickede, engagierte sich im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold. Im Frühjahr 1933 wurde er nachts mit vorgehaltener Pistole von einer Gruppe von SS- und SA-Leuten in seiner Wohnung aufgesucht. Nach dem Öffnen der Tür erhielt er sofort einen Schlag mit einem Knüppel ins rechte Auge und brach zusammen. Ein Polizeibeamter versuchte, eine weitere Eskalation zu verhindern und wurde daraufhin selbst von den Nazis bedroht. Auf dem Weg zum Rathaus wurde Allerdissen weiter geschlagen und getreten. Zwei Jugendfreunde hatten die Szene beobachtet, begleiteten die Gruppe und setzten sich für Allerdissen ein, so blieb ihn die Verschleppung ins KZ erspart. Ihm wurde von der Polizei dringend davon abgeraten, Anzeige gegen die Schläger zu erstatten. Am folgenden Tag tat er dies trotzdem und wurde nun selbst zu einer Geldstrafe verurteilt, die er nicht zahlen konnte und in der Steinwache Dortmund absaß. Er überlebte die Attacke, trug aber eine schwere Augenverletzung davon.
Ernst Wiedemann, Natorper Str. 1, wurde am 26. März 1896 in Sölde geboren. Der Bergmann trat schon als junger Mann der KPD und der Gewerkschaft bei. Schon kurz nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler wurde er wegen „Widerstandes und Beleidigung“ politisch auffällig. Am 30. Juni 1933 starteten die Nazis einen Zugriff auf die KPD-Ortsgruppe Holzwickede. Wiedemann wurde zusammen mit drei weiteren Widerständlern verhaftet. Bei seiner Verhaftung schlugen ihm zwei Polizeibeamte einige Zähne aus und verschleppten die Gruppe ins KZ Bergkamen-Schönhausen. Dort dokumentierte man, Wiedemann sei ein „sehr scharfer Vertreter seiner Partei“. Nach einer weiteren Inhaftierung im Gerichtsgefängnis Kamen kam er zurück, um schließlich ins berüchtigte KZ Börgermoor verschleppt zu werden. Im Außenlager Esterwegen wurde er von der Wachmannschaft körperlich und seelisch misshandelt und zu schwersten Arbeiten im Moor gezwungen. Am 23. Dezember 1933 wurde er entlassen. In Holzwickede blies ihm danach kalter Wind ins Gesicht. Durch seine kommunistische Vergangenheit hatte sich der unangepasste Holzwickeder den Ruf eines Querulanten erworben. Seine Arbeit hatte er verloren und bekam keine Chance, sich neue zu besorgen. Ernst Wiedemann überlebte die Nazizeit und starb 1957 in Holzwickede.