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Die Besichtigung des Schlosses in Colditz steht bei der Sommertour ebenfalls auf dem Programm.- (Foto: Stadt Colditz)

Rechter Terror in Colditz: „Ein blinder Fleck in der Berichterstattung“

Die malerische Idylle trügt: das historische Schloss in Colditz an der Mulde. (Foto: Wikipedia CC 3.0)

In Holzwickeder Ohren mag ja der Name Colditz einen vertrauten Klang haben. Schließlich handelt es sich bei Colditz um die sächsische Partnerstadt der Emschergemeinde. Die meisten Menschen dürften allerdings noch nie etwas von Colditz gehört oder gelesen haben. Eine große Reportage? Eine Titelstory? Fehlanzeige. Dabei hat es in der sächsischen Kleinstadt eine regelrechte Anschlagsserie von Neonazis gegeben. Überregionale Aufmerksamkeit erregten die rechten Attentate nicht. Der Autor Michael Kraske bezeichnet deshalb die sächsische Partnerstadt Holzwickedes als das, „was es nach dem Auffliegen des NSU (Anm. Nationalsozialistischer Untergrund) nie wieder geben sollte“. Colditz sei „ein blinder Fleck in der Berichterstattung“.

Das Medienmagazin „journalist“ des Deutschen Journalisten-Verbandes (DJV) widmet in seiner aktuellen Ausgabe dem Verschweigen rechtsterroristischer Gewaltakte durch Medien, Polizei und Justiz die Titelgeschichte. „Rechtsterrorismus und militante Gewaltbereitschaft werden trotz des NSU weiterhin verharmlost. Auch von Journalisten“, erklärt der Autor Michael Kraske darin.

Wer das historische Schloss in Colditz noch nie besucht hat, wird kaum etwas mit dem Namen dieser Kleinstadt mitten in Sachsen anzufangen wissen. Und selbst in Holzwickede, immerhin die Partnerstadt von Colditz, dürfte noch niemand von der Anschlagserie auf die Pension von Ralf Gorny gehört haben, die vor mehr als zwei Jahren begann, nachdem Gorny in einem MDR-Beitrag über einen örtlichen Neonazi gesprochen hatte. „Seither detonieren vor seinem Haus immer wieder Sprengkörper, die Fensterscheiben zerfetzten und Stühle in Brand setzten“, berichtet Michael Kraske in seinem Beitrag für den „journalist“.

Rechtsterrorismus und militante Gewaltbereitschaft werden trotz des NSU weiterhin verharmlost. Auch von Journalisten“

Michael Kraske, Autor

Dabei ist Gorny kein Einzelfall. Ähnlich wie ihm erging es auch dem Inhaber eines Elektrogeschäftes in Colditz, dessen Söhne Punk-Konzerte veranstalteten. Etwa hundert Neonazis griffen seinen Laden an, so Michael Kraske, während „die Polizei mit mehreren Streifenwagen vor Ort“ war – „ohne einzugreifen“. Kraske beruft sich auf die Darstellung des freien Journalisten Thomas Datte, der die unglaublichen Zustände über „die rechtsfreie Zone“ in Colditz jetzt in einem Sammelband „Unter Sachsen“ 1) publik gemacht hat. Der Colditzer Ladeninhaber zog demnach vor das Leipziger Verwaltungsgericht, das im November 2012 feststellte: Die Polizei in Colditz habe „trotz Kenntnis der Gefahrenlage“ nicht eingegriffen. Konsequenzen? Keine.

Colditz eine „medial ignorierte Unerträglichkeit“

Neonazis / Freie Kameradschaften bei einer Demonstration in Leipzig. (Foto: Herder3 - Wikipedia CC 3.0)
Neonazis bei einer Demonstration in Leipzig. (Foto: Herder3 – Wikipedia CC 3.0)

Colditz ist bis heute „eine medial ignorierte Unerträglichkeit“, schreibt Michael Kraske in seinem Beitrag für das Medienmagazin des DJV. Dass die rechte Gewaltserie und die Preisgabe des staatlichen Gewaltmonopols „jahrelang unterhalb des journalistischen Radars“ geblieben ist, hat nach Ansicht des Autors mehrere Gründe:

  1. Viele Redaktionen haben rechtsextreme Alltagsgewalt im Osten bereits unter gesellschaftlicher Normalität verbucht, insbesondere in Sachsen. Die Schwelle der Berichterstattung ist durch den NSU-Komplex weiter erhöht worden.
  2. Themenvorschläge fielen in den Redaktionen immer dann durch, wenn sie keinen direkten Bezug zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) haben oder unterhalb von Terror rangierten.
  3. Im  Zuge der verstärkten Aufnahme von Flüchtlingen hat sich auch die Zahl der rechten Staftaten erhöht, so dass selbst sensible Redaktionen von den alltäglichen Attacken gegen Flüchtlingen, Politiker und Journalisten überfordert scheinen.
  4. Zudem gelang es der AfD die Aufmerksamkeit von sozialen Missständen abzulenken und die öffentliche Meinung mit ihren Themen zu dominieren.
  5. Und schließlich lenkt die massive islamistische Terrorgefahr den Blick von anderen Gewaltphänomenen ab.

Fast zehn Angriffe pro Tag auf Menschen und Wohnungen

Im Ergebnis führt das zu rechter Gewalt auf Rekordniveau. Selbstverständlich nicht nur in Colditz: Anfang des Jahres vermeldeten Spiegel online und andere Medien eine dramatische Rekordzahl: etwa 3.500 Angriffe auf Flüchtlinge und deren Unterkünfte im Jahr 2016. Das entspricht fast zehn Angriffen pro Tag auf Menschen und Wohnungen. Unter den 560 Verletzten waren auch 43 Kinder. Auf Anfrage des „journalist“  bestätigte das Bundeskriminalamt (BKA) allein 994 Straftaten gegen Asylunterkünfte im vergangenen Jahr. Seit Anfang dieses Jahres habe es bereits weitere 69 Delikte gegen Unterkünfte gegeben, davon sechs Brandstiftungen und zwei Sprengstoffexplosionen (Stand: 20. März)

Dabei beginnen die Probleme mit den rechten Tätern mit der Haltung der Ermittler. Darauf macht auch der SWR-Redakteur Matthias Meisner aufmerksam. „Einzelne Staatsanwaltschaften und Polizeidienststellen haben offenkundig nichts aus der Verbrechensserie des NSU gelernt“, glaubt der Tagesspiegel-Reporter. Das gleiche treffe auch auf Richter und Minister zu. Eine konsequent veränderte Haltung, wie sie auch vom Untersuchungsausschuss des Bundes gefordert wird, „ist nicht erkennbar“, so Matthias Reuters.

Die Probleme beginnen mit der Haltung der Ermittler

In dem „journalist“-Beitrag werden zahlreiche Beispiele dafür genannt: So mussten sich im baden-württembergischen Emmendingen in einem Prozess drei Männer vor dem Amtsgericht verantworten, weil sie geplant haben sollen, mit Hilfe eines Modellflugzeuges einen Sprengsatz auf ein antifaschistisches Jugendlager in Bayern abzuwerfen. Ein Gutachter stellte im Prozess fest, dass „der Sprengkörper tödlich gewirkt hätte“. Trotzdem glaubte der Richter der Aussagen des angeklagten Rechtsextremisten, dass er mit dem selbstgebauten Sprengsatz nichts Schlimmes anstellen wollte. „Man muss sich mal vorstellen, der Täter wäre Islamist gewesen. Undenkbar, dass man IS-Sympathisanten glauben würde, sie bauten Sprengsätze nur so zum Spaß“, meint der SWR-Reporter Thomas Reuter.

Man muss sich mal vorstellen, der Täter wäre Islamist gewesen. Undenkbar, dass man IS-Sympathisanten glauben würde, sie bauten Sprengsätze nur so zum Spaß.“

SWR-Reporter Thomas Reuter

Wann immer offenkundig rechte Tatmotive ignoriert werden, ist der kritische Journalismus gefordert. Inzwischen werden die Skandale auch solchen Redaktionen „frei Haus“ geliefert, die sich die den regelmäßigen Besuch von Strafprozessen vor Ort nicht leisten können. Die Opferberatungsstelle RAA Sachsen beispielsweise beobachtet den Prozess gegen die Gruppe Freital in Dresden und veröffentlicht die Protokolle auf ihrer Webseite.

Polizei in Sachsen auf dem rechten Auge blind?

Im Bericht zum vierten Verhandlungstag etwa dokumentieren die Autoren die Aussage von drei Polizeibeamten des Operativen Abwehrzentrums (OAZ), einer Spezialeinheit, die in Sachsen für politische Kriminalität zuständig ist. Danach kann sich der erste Beamte nicht mehr so genau daran erinnern, dass bei der Durchsuchung bei einem der Angeklagten auch Gegenstände wie eine Reichskriegsflagge und eine CD der rechtsextremen Band „Gigi & die braunen Stadtmusikanten“ gefunden wurden. Jener Band also, deren Song „Döner-Killer“ die Mordserie an Migranten schon vor dem Auffliegen des NSU abfeierte. Die Beamten beschlagnahmten weder die Flagge noch die CD. Der Beamte mit den Gedächtnislücken hatte die Untersuchungen geleitet.

Ein weiterer Kriminalhauptkommissar der Spezialeinheit konnte sich auf Nachfrage zwar daran erinnern, dass ein e„Reichsflagge“ mit „Kreuz“ gefunden wurde. Prozessbeobachter protokollierten aber, dass er sich genauer nicht mehr erinnern konnte. Fotos vor Gericht lösten das Rätsel schließlich auf: Es war eine Hakenkreuzfahne. Nicht nur „journalist“-Autor Michael Kraske fragt sich: Ist es möglich, dass der Beamte einer Spezialeinheit für politische Kriminalität nicht in der Lage ist, ein Hakenkreuz zu erkennen?

1)  Heike Kleffner / Matthias Meisner (Hrsg.):
    Unter Sachsen. Zwischen Wut und Willkommen
    1. Auflage 2017
    ISBN: 978-3-86153-937-7
   312 Seiten, 15 s/w Fotos,  18 Euro

 

Journalismus, Neonazis


Peter Gräber

Dipl.-Journalist

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