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Dieses Bild entstand ca. 1935/36 und zeigt die Hitler-Jugend auf dem Marktplatz in Holzwickede vor dem Haus von Dr. Lotz (später Dr. Watermann sowie Dr. Pappert). Dr. Lotz war Reichstagsabgeordneter, SA-Standartenführer sowie Gaugesundheitsführer Westfalen-Süd im Dritten Reich. (aus: Festschrift "Das Rathaus in Holzwickede 1915 - 2015")

Vor 85 Jahren: Reichsprogromnacht in Unna und Holzwickede oder das Märchen vom spontanen Volkszorn

Dieses Bild entstand ca. 1935/36 und zeigt die Hitler-Jugend auf dem Marktplatz in Holzwickede vor dem Haus von Dr. Lotz (später Dr. Watermann sowie Dr. Pappert). Dr. Lotz war Reichstagsabgeordneter, SA-Standartenführer  sowie Gaugesundheitsführer Westfalen-Süd im Dritten Reich. (aus: Festschrift "Das Rathaus in Holzwickede 1915 - 2015")
Holzwickede galt damals als eine nationalsozialistische Hochburg: Dieses Bild entstand ca. 1935/36 und zeigt die Hitler-Jugend auf dem Marktplatz in Holzwickede vor dem Haus von Dr. Lotz (später Dr. Watermann sowie Dr. Pappert). Dr. Lotz war Reichstagsabgeordneter, SA-Standartenführer sowie Gaugesundheitsführer Westfalen-Süd im Dritten Reich. (aus: Festschrift „Das Rathaus in Holzwickede 1915 – 2015“)

Auf den Tag genau morgen vor 85 Jahren, in der Nacht vom 8. auf den 9. November 1938, wurden in der Reichspogromnacht insgesamt 7.500 Geschäfte zerstört, 171 Synagogen niedergebrannt, etwa 26.000 Personen in Konzentrationslager verschleppt und 891 Menschen ermordet (Quelle: Das große Lexikon des Dritten Reiches, S. 355). Anlässlich des Jahrestages erinnert Wilhelm Hochgräber an die Ereignisse in Unna und Holzwickede in dieser Schreckensnacht, die von den Nazis anschließend verniedlichend als „Reichskristallnacht“ bezeichnet wurde.

Hochgräber, der für die Geschichtswerkstatt Holzwickede und die Volkshochschule auch Vorträge zum Thema hält, stützt sich dabei weitgehend auf seine eigenen Rechercheergebnisse, Band 2 der Unnaer Stadtgeschichte von Klaus Basner sowie eine 31-teilige Artikelserie aus der WAZ/WR (28.1.-23.6.1983) von Gabi Gillen-Klumpp.

Kreisleiter Heinrich Meinert führte Nazi-Mob in Unna

Danach wurde der Nazi-Mob damals in der Nacht vom 8. auf den 9. November in Unna von dem NSDAP-Kreisleiter Heinrich Meinert geführt. In Unna wurden das Textilgeschäft Rosenbaum (Bahnhofstraße 3), das Hutgeschäft Rosenbaum (Bahnhofstraße 17) und das Textilgeschäft Brandenstein (Bahnhofstraße 25) angegriffen.

Anschließend zog der Mob weiter in die Königstraße (heute Gerhart-Hauptmann-Straße) und die Schäferstraße. Dort wurden Scheiben eingeworfen, Türen eingetreten, Inventar zerstört, wehrlose Menschen misshandelt und ins KZ verschleppt. Die Inneneinrichtung der Synagoge (zwischen Klosterwall und Klosterstraße) wurde mit Äxten und Vorschlaghämmern zertrümmert und die Synagoge in Brand gesetzt.

Die Bewohner des Israelitischen Altersheimes in der Düppel-/Mühlenstraße wurden unter Beschimpfungen mit Schlagstöcken aus dem Haus und bis zum Rathaus getrieben. Dort musste sie nur in Nachtkleidung stundenlang in der Kälte ausharren. Das Rathaus befand sich damals in der Bahnhofstraße an der Stelle der heutigen Hauptstelle der Sparkasse.

„Erstaunlicherweise berichtete der Hellweger Anzeiger damals schon am nächsten Morgen über einen ‚Nächtlichen Feuerwehreinsatz in Unna‘, obwohl der Feueralarm erst gegen 2 Uhr morgens, also nach Redaktionsschluss, erfolgte“, so Wilhelm Hochgräber. „In der Folge des 9. November nahmen sich drei Mitglieder der Familie Marcus drei Tage danach das Leben.“ In Unna gibt es in Erinnerung daran auch eine Marcusgasse zwischen der Massener Straße und Flügelstraße.

Letzter Jude wurde schon 1935 aus Holzwickede vertrieben

„Auf den ersten Blick erstaunlich ist, dass es auch in Holzwickede eine Reichspogromnacht gab, denn dort gab es 1938 keine Juden mehr“, meint Hochgräber. „In Holzwickede hatte es nur weniger jüdische Einwohner gegeben.“ Die Chronik der Südschule (Bd. 1, S. 5, 218-220) gibt etwa für das Jahr 1895 insgesamt 15 jüdische Einwohner (= drei Familien), für das Jahr 1905 insgesamt elf und für das Jahr 1914 nur insgesamt sieben jüdische Einwohner an. Holzwickedes letzter Jude hatte die Gemeinde 1935 verlassen müssen, nachdem er von zwei SS-Männern bis zur Bewusstlosigkeit geschlagen wurde und kurzzeitig in „Schutzhaft“ kam (Quelle: U. Reitinger, Lebenslauf Olser Schwanhorst für die Stolpersteinverlegung am 27. Januar 2022).

Nach Aussagen von Zeitzeugen wurden am 9. November 1938 am ehemaligen Stoffgeschäft Herzberg an der Nordstraße 2 Scheiben eingeworfen sowie mit schwarzer Farbe beschmiert und das Geschäft von einem Mann in SA-Uniform bewacht. Wie Hochgräber erläutert, handelte es sich bei Herzberg um eine Filiale des Hauptgeschäftes in Aplerbeck, das nach dem Tod von Moritz Herzberg 1932 von dessen Sohn Walter weitergeführt wurde.

Nach weiteren Zeitzeugenaussagen bestand das Geschäft Herzberg in Holzwickede bis 1933/34 und wurde 1936/37 von der Firma Hohagen übernommen. Das Hauptgeschäft in Aplerbeck wurde 1936 mit einem Räumungsverkauf aufgegeben und die Familie zog nach Essen. 1937 flüchtete die Familie in das tschechoslowakische Generalkonsulat nach Essen (WR, 3.1.2002). Walter Herzberg und seiner Schwester Beate gelang die Flucht in die USA. Der Zeitpunkt und Fluchtweg sind unbekannt.

Das Märchen vom spontanen Volkszorn

Doch warum fand in Holzwickede überhaupt eine Reichspogromnacht statt, obwohl es hier doch gar keine Juden mehr gab? Dafür gibt es laut Wilhelm Hochgräber nur zwei Erklärungen: Entweder hatte ein übereifriger Nazi die Entwicklung ,verschlafen‘. Oder es sollte, was wahrscheinlicher ist, dem Märchen vom angeblich spontanen Volkszorn nachgeholfen werden. Denn in Wahrheit handelte es sich bei der Reichspogromnacht um eine zentral gesteuerte Aktion, zu der die SA noch einmal aktiviert wurde.

„Folgt man den Zeitzeugen“, so Hochgräber, „wurde das Geschäft Herzberg von einem Mann in SA-Uniform bewacht. Das erscheint plausibel, um Plünderungen zu verhindern, denn der Geschäftsnachfolger war Nationalsozialist. Der Vorgang erinnert mich auch an einen in Unna, wo die Feuerwehr nicht bereitstand, um den Synagogenbrand zu löschen, sondern nur das Übergreifen des Brandes auf Nachbargebäude verhinderte.“

Geschichtswerkstatt, Reichspogromnacht


Peter Gräber

Dipl.-Journalist

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